„Es war nicht so leicht, die Spiele zu sehen“, sagt sie im Rückblick. Sie registrierte, wie ihre Kolleginnen in England mit leidenschaftlichen Auftritten überzeugten und sich in kurzer Zeit in Deutschland große Sympathien verdienten – eine Erfahrung, die sie als „Fan Number One“, als erste Anhängerin, zwar klaglos hinnahm, wie sie jüngst in der ARD-Doku „Shootingstars“ schilderte, die aber empfindlich an ihr nagte.
Momentan trägt sie im DFB-Trikot mit der Nummer neun maßgeblich Verantwortung. Nüsken ist endgültig zur ordnenden Instanz einer Gruppe geworden, die im laufenden Betrieb während der EM in der Schweiz lernen muss, sich zu stabilisieren – ohne die verletzte Kapitänin Giulia Gwinn und auch ohne die nicht nominierte Lena Oberdorf, die nach ihrem Kreuzbandriss nicht rechtzeitig in Tritt kam und deren Präsenz als Motor im Zentrum fehlt, als jemand, der Bälle gewinnt und das Spiel nach vorn tragen kann. Auch deshalb blieb manches in der Gruppenphase hinter den Erwartungen zurück.
Sie soll absichern, aufbauen, dirigieren
Im Viertelfinale an diesem Samstag (21.00 Uhr im F.A.Z.-Liveticker zur Fußball-EM der Frauen, im ZDF und bei DAZN) gegen Frankreich wird das Team gefordert sein, die Räume kompakter zu verdichten, möglichst wenige Tempoläufe zuzulassen und Angreiferin Lea Schüller zielgerichteter einzubinden. Gerade auf Nüsken wartet viel Arbeit. Ihr Anforderungsprofil ist von Christian Wück klar umrissen: Sie soll absichern, aufbauen, dirigieren.
Dass sie am zweiten Spieltag gegen Dänemark (2:1) zum Elfmeter antrat, mit dem sie den Vorsprung des Gegners ausglich und die Wende einleitete, war sichtbarer Ausdruck ihrer Überzeugung, dass mittlerweile von ihr verlangt wird, dass sie nicht zögert, sondern voranschreitet.
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Der Bundestrainer setzt Vertrauen in die frühere Frankfurterin und hat, wie er während der EM-Vorrunde schilderte, schon beim ersten Kennenlernen vor Monaten erkannt, dass sie sich als Führungspersönlichkeit eignet. Die Münchnerin Linda Dallmann sagte, alle in der Kabine hätten „kopfnickend zugestimmt“, als Nüsken nach dem Ausfall Gwinns zur neuen Vizekapitänin ernannt wurde.
Die gebürtige Westfälin bekräftigte zuletzt, dass es kein Zufall ist, dass ihr bislang größter Entwicklungsschritt außerhalb Deutschlands stattfand. Als sie Mitte 2023 nach vier Jahren bei der Eintracht zum FC Chelsea wechselte, begab sie sich bewusst auf unbekanntes Terrain: „Es war einfach ein Bauchgefühl, das gesagt hat: Trau dich!“
„Absolut überzeugt von dieser Mannschaft“
Mit den „Blues“ wurde sie zweimal englische Meisterin und einmal Pokalsiegerin. Woche für Woche muss Nüsken in dem topbesetzten Kader mit fast vierzig Spielerinnen um ihren Platz kämpfen. Von dieser Londoner Lektion möchte sie bei der EM profitieren. In der Runde der letzten acht soll längst nicht Schluss sein: „Ich bin absolut überzeugt von dieser Mannschaft. Ich möchte das einfach an jeden weitergeben und jeden mitziehen.“
Wück schätzt die 1,74 Meter große Nüsken als physisch stark, taktisch geschult und mental belastbar. Sie war als Kind deutsche Meisterin im Tennis, bevor sie sich mit elf Jahren ausschließlich dem Fußball verschrieb und sich bis zur U 17 und dem Wechsel in den Profifußball gegen gleichaltrige Jungs zu behaupten wusste.
Aktuell im DFB-Quartier oberhalb des Zürichsees beeindruckt Nüsken den Rest der Truppe mit Jonglierkünsten, die ihre Koordinationsfähigkeiten veranschaulichen. „Ich weiß gar nicht, mit wie vielen Bällen“, sagte Kollegin Kathrin Hendrich zu den Darbietungen, „gefühlt mit zehn.“
Wenn auf dem Rasen das Geschehen eröffnet wird, zeigt sich Nüsken von einer anderen Seite: ohne Hang zur Showeinlage, unerschrocken im Eins-gegen-eins. Dass sie gegen Polen (2:0) offensiv eine Kopfballchance aus kurzer Distanz ungenutzt ließ, hatte keine negativen Folgen, weil sie im eigenen Strafraum in den Duellen mit Stürmerin Ewa Pajor als Aufpasserin resolut zur Tat schritt.
Jenseits des Rasens meidet Nüsken die ihr unbequemen Aufgaben nicht. Pressekonferenzen und Interviews vor laufender Kamera akzeptiert sie inzwischen als Teil des Geschäfts. „Ich glaube, dass das dazugehört“, sagte sie in dieser Woche. „So ein bisschen werde ich jedoch schon gezwungen“, fügte Nüsken mit einem Grinsen in Richtung DFB-Pressesprecherin Annette Seitz an.
„Wir müssen es einfach leben“
„Es macht mir jetzt nicht unglaublich viel Spaß, aber ich hoffe, dass ich eure Fragen gut beantworten kann“, ließ sie die Journalisten wissen, ehe es ihrem Statement zu den weiteren Erwartungen bei diesem Turnier nicht an Deutlichkeit mangelte: „Es ist wichtig, dass wir von innen heraus diesen Glauben haben, dass wir unsere Qualitäten kennen. Das wird uns natürlich vom Trainerteam vorgesagt. Aber wir müssen es einfach leben.“
Ob es reicht, um in der abschließenden Woche dabei zu sein, an deren Ende der neue Champion gekrönt wird, ist nicht verlässlich prognostizierbar. Fest steht dagegen: Ohne Nüsken wären die Deutschen bis hierher noch schwerer durch diese EM gekommen. Und sollten sie tatsächlich das Finale am 27. Juli in Basel erreichen und sollte die Vierundzwanzigjährige fit bleiben, wird sie auf dem Spielfeld stehen – nicht mehr als Statistin, sondern in einer Schlüsselrolle.