Novak Djokovic und Jannik Sinner werden sich am Freitag zum zehnten Mal gegenüberstehen. Sinner ist der Favorit, doch Novak Djokovic kann sich in Wimbledon weiterhin zu Höchstleistungen aufschwingen.
Von Andreas Thies, Wimbledon
Fast wäre es gar nicht zu diesem Duell gekommen, auf das nicht nur die Tenniswelt, sondern auch Novak Djokovic schon seit längerem hinfiebert. Als Djokovic am Mittwoch mit Matchball im Rücken auf dem noch nicht abgespielten Teil des Rasens, weit hinter der Grundlinie, ausrutschte und im Spagat landete, verzerrte nicht nur der siebenmalige Sieger schmerzverzerrt das Gesicht. Auch seine sofort von der Kamera eingefangene Ehefrau Jelena und die Zuschauerinnen und Zuschauer hielten den Atem an.
Nach einer langen Minute hatte sich Djokovic berappelt, erhielt von seinem gut aufspielenden Gegner Flavio Cobolli den Schläger und beendete zwei Punkte später das Match. Damit erreichte der 24-malige Grand-Slam-Champion zum 52. Mal das Halbfinale bei einem der vier Majors. Zahlen, die unwirklich erscheinen, doch jetzt geht es für Djokovic wie schon bei den French Open gegen den Weltranglistenersten Jannik Sinner.
Djokovic – Leistung zum richtigen Zeitpunkt
Und selbst wenn Djokovic siegen sollte, wird er zwei außergewöhnliche Leistungen bringen müssen, um seinen 25. Titel zu gewinnen. Denn im Finale würden Taylor Fritz oder wie schon in den letzten beiden Wimbledon-Finalen Carlos Alcaraz warten. Doch wenn der Serbe in den vergangenen Jahren eins gezeigt hat, dann eine fast unglaublich anmutende Fähigkeit, sein Level für besonders wichtige Matches noch mal so anzuheben, dass selbst die allerbesten Gegner kaum etwas entgegensetzen können.
Novak Djokovic hat gute Tage in London
So zum Beispiel geschehen im Finale der Olympischen Spielen im vergangenen Jahr gegen Alcaraz, als Djokovic so überragend spielte, dass er nicht ein einziges Mal den Aufschlag gegen den neuen Sandplatzdominator abgeben musste und Olympiagold holte. Auch während der Tage in Wimbledon gelangen ihm solche Leistungssteigerungen, wenn auch eher im Kleinen. Im Achtelfinale gegen Alex de Minaur verhinderte Djokovic mit fehlerlosem und unwiderstehlichem Rasentennis einen fünften Satz, Flavio Cobolli hielt er ab dem zweiten Satz auf Distanz.
Sinner – mit Konstanz an die Spitze
Gegen Sinner wird es eine wohl eine noch bessere Leistung brauchen, denn seit dessen Aufstieg zur Nummer 1 steht die Bilanz von Djokovic gegen Sinner bei 0:4. Djokovic findet kaum Mittel gegen die Konstanz Sinners, die an den jungen Djokovic erinnert. Doch auch der Südtiroler kommt leicht gehandicapt in dieses Halbfinale. Im Viertelfinale zierte ein Kompressionsärmel den rechten Schlagarm.
In der Runde zuvor war Sinner gegen Grigor Dimitrov auf den Arm gefallen. Es folgten ein Tag Training hinter verschlossenen Türen – und Sorgen, ob das Viertelfinale gegen Ben Shelton überhaupt stattfinden könnte. Und obwohl der Südtiroler im Match gegen Shelton wieder sein bestes Tennis zeigte, war alleine schon an den erleichterten Gesichtern seines Trainerteams zu sehen, wie angespannt die Nerven im Team Sinner in den vergangenen Tagen waren.
Jannik Sinner in Wimbledon bei der Arbeit
Entscheidet der Untergrund?
Sowieso scheint Rasen der einzige Belag, auf dem Sinner noch nicht konstant zu absoluten Höchstleistungen fähig ist. Gegen den Bulgaren Grigor Dimitrov spielte er über mehr als zwei Sätze nicht wie ein Weltranglistenerster. Wohl nur die tragische Verletzung Dimitrovs bei 2:0 Satzführung für den Bulgaren verhinderte ein frühes Ausscheiden.
Auch deswegen lauert Djokovic auf seine Chance. Er weiß, dass dieses Turnier auf Rasen, der Erfahrung und Variabilität wie kein anderer Belag belohnt, seine beste verbliebene Karrierechance auf einen Grand-Slam-Titel ist. Selbst wenn er vor dem Halbfinale etwas verhalten klang: „Hoffentlich kann ich meine Leistung bringen und mit ihm über fünf Sätze mithalten.“
Doch auch darüber hinaus hat Djokovic Lust auf dieses Generationenduell: „Es motiviert mich, zu schauen, ob ich mit diesen Jungs immer noch mithalten kann. Ich habe in Paris in drei Sätzen gegen Jannik verloren. Ich habe ordentlich gespielt, aber er war einfach besser. Jetzt bekomme ich eine weitere Gelegenheit.“
Präzision und Jugend gegen Routine
Sinner scheint seinerseits die Enttäuschung über das verlorene, epische French-Open-Finale abgeschüttelt zu haben. Er ist ein Meister des Blicks nach vorne, hält sich kaum mit Vergangenem auf. Auch nicht nach dem Viertelfinalsieg gegen Shelton: „Ich habe nie gegen Djokovic in Wimbledon gewonnen. Das wird eine sehr, sehr große Herausforderung.“
Die Zuschauer können sich auf ein Spektakel freuen. Sinners Präzision und Jugend gegen die Routine und das fast perfekte Rasenspiel von Djokovic. Dabei wird eine Serie zu Ende gehen: Entweder verliert Sinner erstmals seit seinem Aufstieg gegen Djokovic oder Djokovic erreicht erstmals seit 2017 nicht das Finale in Wimbledon.