„Bewusste Demontage“ – SPD verärgert über verschobene Richterwahl

Stand: 12.07.2025 11:11 Uhr

In der SPD ist der Ärger über die Union groß. Man fürchtet, dass durch die geplatzte Richterwahl auch das Verfassungsgericht als Institution beschädigt wurde. Kritisch äußert sich auch ein Ex-Verfassungsrichter, der lange CDU-Spitzenpolitiker war.

Nach der gestern kurzfristig verschobenen Wahl von zwei Verfassungsrichterinnen und einem Verfassungsrichter im Bundestag verbreitet die Union Optimismus. „Ich bin sicher, dass die Koalitionsfraktionen über den Sommer eine tragfähige Lösung finden werden“, sagte Kanzleramtschef Thorsten Frei (CDU) der Neuen Osnabrücker Zeitung. Details nannte er nicht.

Beim Koalitionspartner SPD gibt es vorher vermutlich noch einige Wogen zu glätten. Fraktionschef Matthias Miersch ließ seinem Unmut in einer persönlichen Erklärung freien Lauf. Er schreibt von einer „bewusste Demontage“ des höchsten deutschen Gerichts und demokratischer Institutionen. Dies sei „brandgefährlich“. Er machte in der Erklärung deutlich, dass seine Partei auch an der Kandidatin Frauke Brosius-Gersdorf festhalten werde, die bei Unions-Politikern umstritten ist. „Ich erwarte, dass die Mehrheit steht.“

Hubig: „Sehr viele Verlierer“

Nach Einschätzung von Bundesjustizministerin Stefanie Hubig (SPD) ist ein Schaden entstanden, der vermeidbar gewesen wäre. „Wer gezielt Ämter und Personen beschädigt, gefährdet die Integrität unseres demokratischen Gemeinwesens“, sagte die Ministerin der Rheinischen Post. „Der Vorgang ist beispiellos und verantwortungslos und produziert sehr viele Verlierer.“ Für die Besetzung des Amts eines Richters oder einer Richterin am Bundesverfassungsgericht existiere ein etabliertes Verfahren, das sich über Jahrzehnte bewährt habe.

Wegen massiven Widerstands in der Unionsfraktion gegen die von der SPD vorgeschlagene Kandidatin Brosius-Gersdorf waren die Abstimmungen am Freitag kurzfristig von der Tagesordnung des Bundestags genommen worden. Konservative Kräfte in der Union hatten Äußerungen Brosius-Gersdorf zur Abtreibung kritisiert. Zudem waren angebliche Unregelmäßigkeiten in ihrer Doktorarbeit beklagt worden. Nach Einschätzung von Experten sind Plagiatsvorwürfe aber nicht haltbar.

„Autoritätsproblem“ in der Union?

Der brandenburgische Justizminister Benjamin Grimm (SPD) kritisierte das Vorgehen der Union. „Die von Frau Brosius-Gersdorf vertretenen Positionen muss nicht jeder teilen. Sie sind aber ohne jeden Zweifel mitten im demokratischen Spektrum und vor allem schon lange bekannt“, sagte Grimm der Nachrichtenagentur dpa. „In letzter Sekunde die Richterwahl daran scheitern zu lassen, ist ein Unding.“

Verwundert über CDU und CSU zeigte sich auch der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Dirk Wiese. Er verwies auf die Empfehlungen des Unions-Fraktionsvorsitzenden Jens Spahn sowie von Kanzler Friedrich Merz (beide CDU) an die Unions-Abgeordneten, Brosius-Gersdorf zu wählen. „Da gibt es ein Autoritätsproblem“, so Wiese. 

Um Vorbehalte in der Union auszuräumen, ist Brosius-Gersdorf offenbar bereit, sich persönlich Fragen von Abgeordneten zu stellen. Die 54-Jährige sei bereit für Gespräche mit der Unionsfraktion, berichtet die Bild-Zeitung.

Dobrindt: Debatten bei solchen Ämtern zu erwarten

Bundesinnenminister Alexander Dobrindt widersprach den Bewertungen, das Bundesverfassungsgericht sei beschädigt worden. Der CSU-Politiker stellte den Vorgang als einen politischen Prozess dar, der vielen Einflüssen unterliege und bei dem das ursprüngliche Ziel nicht zwingend dem letztlichen Ergebnis entspreche. 

„Wenn man sich um höchste Ämter bewirbt, gewählt werden muss, dann wird man auch in der Öffentlichkeit betrachtet. Dann gibt es auch Diskussionen und Debatten dazu“, sagte er im Deutschlandfunk. Dies relativiere nicht, „dass das nicht der normale Prozess war und dass man sich einen anderen Prozess oder ein anderes Ergebnis im Prozess gewünscht hätte“.

Unabhängigkeit des Gerichts betont

Auch von einem langjährigen CDU-Spitzenpolitiker und Verfassungsrichter wird die Union für die kurzfristig gescheiterte Richterwahl allerdings kritisiert. „Dies ist ein eklatantes Führungsversagen der Union“, sagte der ehemalige Verfassungsrichter und CDU-Ministerpräsident Peter Müller der Süddeutschen Zeitung. „So etwas darf nicht passieren.“

Es sei nichts Neues, dass es Vorbehalte gegen Personalvorschläge für das Bundesverfassungsgericht gebe, so Müller weiter. Bisher seien diese allerdings im Vorfeld geklärt worden. Man könne doch nicht der SPD zusagen, die Wahl einer Richterkandidatin mitzutragen, „um später festzustellen, dass die notwendigen Mehrheiten in der eigenen Fraktion dafür nicht vorhanden sind“, so Müller.

Er war von 1999 bis 2011 saarländischer Ministerpräsident und von 2011 bis 2023 Richter am Bundesverfassungsgericht. Im Gespräch mit der Zeitung stellte er klar: „In den Beratungen zählt dort das juristische Argument, sonst nichts. Wer da versucht, Politik zu machen, ist nicht gesprächsfähig. Für mich dokumentiert dieser Vorgang, dass wir in der politischen Mitte zunehmend unfähig werden, andere Meinungen auszuhalten.“ Das Bundesverfassungsgericht brauche „unterschiedliche Persönlichkeiten“.

Kirchhof spricht von einer Panne

Diplomatischer äußerte sich der ehemalige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Ferdinand Kirchhof. Er sprach im ZDF von einer „Panne“ – ein „schwarzer Tag“ sei dies aber nicht. Auch die Unabhängigkeit des Gerichtes sieht Kirchhof nicht beeinträchtigt. Man werde einmal in das Amt gewählt, und wenn ein Richter in diesem Amt sei, dann müsse sich seine Unabhängigkeit zeigen. Das sei bisher immer gut gelungen.

Die Funktionsfähigkeit des Gerichts sei durch die gescheiterte Wahl nicht gefährdet. Der ausscheidende Richter müsse sein Amt fortführen, „bis der Nachfolgende gewählt ist“. So werde Kontinuität gewährleistet. Ferdinand Kirchhof war von 2007 bis 2018 Richter am Bundesverfassungsgericht – ab 2010 als Vizepräsident des Gerichts.

Drei Nominierte müssen warten

Die Wahl der Richterinnen und Richter für das Bundesverfassungsgericht soll nun nach der Sommerpause stattfinden. Das beschloss der Bundestag am Freitag.

Außer Brosius-Gersdorf hatte die SPD noch die Juraprofessorin Ann-Katrin Kaufhold nominiert und die Union den vom Verfassungsgericht empfohlenen Arbeitsrichter Günter Spinner.

Brosius-Gersdorf – worum geht es bei den Vorwürfen?

Die Unionsfraktion hat von der SPD den Verzicht auf die Wahl der Juristin Frauke Brosius-Gersdorf für das Bundesverfassungsgericht gefordert. Als Grund dafür wurden Zweifel an ihrer Doktorarbeit genannt, aufgrund einer Veröffentlichung des als „Plagiatsjäger“ bekannten Stefan Weber auf dessen Website.

Dieser hatte bemängelt, dass es in der Dissertation von Brosius-Gersdorf „23 Verdachtsstellen auf Kollusion und Quellenplagiate“ gebe. Konkret geht es um sogenannte Textidentitäten in der Doktorarbeit der SPD-Kandidatin und der Habilitation ihres Ehemannes, Hubertus Gersdorf.

Allerdings erschien die Doktorarbeit von Brosius-Gersdorf bereits im Jahr 1997, die Habilitation ihres Mannes erst im Jahr 2000. Rein zeitlich ist es also höchst unwahrscheinlich, dass Brosius-Gersdorf die Passagen übernommen hat. Auch Weber selbst teilte auf der Plattform X mit, dass die Sichtweise der CDU, dass von ihm Plagiatsvorwürfe gegen Brosius-Gersdorf erhoben wurden, falsch sei.

Der Plagiatsexperte Jochen Zenthöfer sieht das ähnlich. In der Plagiatsforschung gelte der Grundsatz, dass bei Textidentitäten die Arbeit als sauber gelte, die zuerst da war – also in dem Fall die von Brosius-Gersdorf.

Der Plagiatsprüfer Weber nahm bereits zahlreiche Politikerinnen und Politiker ins Visier. So erhob er schon Vorwürfe gegen Olaf Scholz (SPD), Robert Habeck und Annalena Baerbock (beide Grüne).

Christina Nagel, ARD Berlin, tagesschau, 12.07.2025 13:04 Uhr

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